Hilfe
5 / 5
Geschichten aus der SAW

«Freiheit! Das ist mir das Wichtigste.»

Angela Reimann-Crosara (73) verbrachte wegen einer Polioinfektion (Kinderlähmung) viel Zeit in Krankenhäusern und konnte keinen Beruf erlernen. Trotz ihrer körperlichen Einschränkungen arbeitete die lebensbejahende Frau mit italienischen Wurzeln teilzeitlich als Zeichnerin und produzierte Postkartenunikate. Heute bewohnt sie zusammen mit ihrem Mann eine Dreizimmerwohnung in der SAW-Siedlung Scheuchzerstrasse.

«Bodega-Fraktion: So nennt sich unser freundschaftlicher Kreis von einigen lieben Menschen hier im Haus, weil die meisten von uns früher zur Stammkundschaft der ‹Bodega Española› im Zürcher Niederdorf gehörten. Als junge Frau habe ich viele Abende dort verbracht, wenn ich nicht gerade im Spital war. Und natürlich an anderen einschlägigen Orten: Odeon, Select, Malatesta, Blutiger Daumen und wie die Beizen alle hiessen, in denen oft bis zur Polizeistunde heftig diskutiert, geraucht, gelacht und getrunken wurde. Wir schimpften über das Establishment, demonstrierten gegen den Vietnamkrieg und begehrten gegen bürgerliche Moralvorstellungen auf. Die waren ja damals recht rigide: Das Zusammenleben ohne Trauschein war untersagt, Homosexualität wurde im Versteckten gelebt, lange Haare waren pfui, und am See gab es überall Schilder mit der Aufschrift ‹Rasen betreten verboten›. Ja, die 68er-Jahre. Ich habe sie als wilde und schöne Zeit in Erinnerung. 1971 lernte ich – in der ‹Bodega› – meinen Mann Frankie kennen. Er war ein Sunnyboy. Kam strahlend herein, sagte: ‹Hi, Fans!›, und ich fand ihn ziemlich blöd. Zwei Jahre später heirateten wir. Er ist ein sehr, sehr lieber Mensch. Manchmal redet er ein bisschen viel – ein guter Freund nennt ihn den ‹Wörter-Tsunami›. Aber wir haben uns lieb und schauen gut zueinander.

 

Die Wohnung hier in der Scheuchzerstrasse ist ein grosses Glück für uns. Das alte Zuhause beim Schulhaus Kügeliloo zu verlassen, fiel mir zwar schwer, denn ich war dort sehr verwurzelt. Aber 2013 hatte ich zwei schwere Rückenoperationen, danach konnte ich die Wohnung wegen der Treppen kaum mehr verlassen. Hier kann ich mich wieder selbständiger bewegen, ja sogar ohne Hilfe im Quartier herumfahren mit meinem neuen elektrischen Rollstuhl. Das geniesse ich sehr, denn Freiheit ist mir das Wichtigste im Leben!

Körperlich geht es mir nicht besonders gut. Mein linker Arm ist lahm, ich habe kaum mehr Kraft und sowieso alle möglichen Gebresten. Vor ein paar Jahren hatte ich sogar einen Herzstillstand – die da oben wissen wohl nicht so ganz, was sie wollen mit mir. Trotzdem: Ich gebe nicht auf und mache so viel wie möglich selber: einmal pro Woche den Boden aufwischen zum Beispiel – mit dem Wischmopp im Rollstuhl sitzend wie ein venezianischer Gondoliere. Ich habe auch gern Gäste und gehe unter Leute, wenn immer ich kann.

 

Ich glaube, wir alten Achtundsechziger sind in manchem ein bisschen anders als man sich alte Leute vorstellt. Mit uns kann man nicht über Unterhaltungssendungen reden, und darüber, dass Beni Turnheer doch viel netter war als Roman Kilchsperger. Wir sehen selten fern, verfolgen aber das politische Geschehen aufmerksam. Stramm vereinsmässig organisierte Aktivitäten sind uns unsympathisch. Dafür treffen wir uns zum Apéro, feiern gern und interessieren uns für Neues in der Kultur. Und wenn uns etwas nicht passt, sagen wir es deutlich. Ja, ganz allgemein fühlen wir uns wohl jünger als die ‹traditionellen› Alten und benehmen uns auch so. Mit vielen Leuten hier im Haus – auch älteren – pflege ich eine gute Nachbarschaft. Anderen, bei denen ich Ablehnung spüre, weiche ich lieber aus. Es gibt hier 70 Mietparteien, da können nicht alle befreundet sein.»